Anlässlich seines 250. Geburtstages sind dem Maler Caspar David Friedrich derzeit eine ganze Reihe von Ausstellungen gewidmet. Sein bekanntestes und am häufigsten reproduziertes Gemälde trägt den Titel „Der Wanderer über dem Nebelmeer“. Es gilt als das deutsche Werk der Romantik schlechthin, ja geradezu als ihr Inbegriff. Friedrich lässt darin einen Wanderer auf die weit unter ihm liegenden, zum größten Teil vom Nebel verhüllten Berge blicken. Bei meiner letzten Fototour konnte ich nun eine ganz ähnliche Erfahrung machen. Aber der Reihe nach:
Der September gilt gemeinhin als der vielleicht beste Monat für Bergwanderungen. Mit etwas Glück brennt die Sonne nicht mehr so heiß wie im Sommer. Stattdessen sollte die jetzt deutlich klarere Luft für eine gute Fernsicht bürgen. Nicht ganz unwichtig ist natürlich auch, dass die meisten Almen und Berghütten um diese Zeit des Jahres noch bewirtschaftet werden und zu einer zünftigen Einkehr verlocken. Wandererherz, was willst du mehr?
Meine Frau hat die Liebe zu den Bergen als in München aufgewachsene Österreicherin praktisch in die Wiege gelegt bekommen. Ich hingegen bin erst als junger Erwachsener auf den Geschmack gekommen. Seit langem zieht es uns immer wieder einmal zum Wandern in die Berge. In diesem Jahr ging es deshalb im September nach Österreich, genauer gesagt ins Gebiet rund um den Wilden Kaiser in Tirol.
Seit einiger Zeit dient mir meistens unser kleiner Wohnanhänger als mobiles Domizil für meine spontanen Fototouren. Aber inzwischen haben wir beide eine gewisse Vorliebe für diese ebenso minimalistische wie naturnahe Art des Reisens entwickelt. So war es schnell entschieden: Auch in Tirol sollte er uns als Stütz- und Ausgangspunkt unserer Wanderungen dienen. Es bedurfte zwar einiger Internet-Recherchen, aber zum guten Schluss hatten wir einen vielversprechenden Stellplatz auf einem Bauernhof gefunden. Das war uns wichtig, denn Campingplätze sind nun einmal nicht so unser Ding.
Was soll ich sagen? In dem Moment, als wir über ein verflixt schmales und recht steiles Bergsträßchen unser Ziel erreichen, wird uns auf der Stelle klar: Wir haben alles richtig gemacht. Welch ein wunderschöner Stellplatz! Welch ein fantastischer Ausblick! Und das Beste: Außer ein paar fernen Kuhglocken und dem eifrigen Zwitschern der Vögel ist absolut nichts zu hören. Gut, bei den Vögeln handelt es sich um Krähen, und deren Laut verdient wohl eher die Bezeichnung „Krächzen“ als „Zwitschern“. Aber hey: Die Krähe ist nun einmal so etwas wie der Joe Cocker unter den Singvögeln – und dessen Songs sind nun wahrlich nicht schlecht.
Oh weh, nun bin ich vor lauter Erzählen inhaltlich doch ein beträchtliches Stück vom Weg abgekommen. Wie finde ich jetzt bloß zurück zum Wandern und zum Nebelmeer? Im Grunde wohl gar nicht. Egal, dann muss es eben auch einmal ganz ohne elegante Überleitung gehen. Ich komme also gleich zum nächsten Tag:
Nachdem wir abends noch lange draußen vor unserem Wohnanhänger gesessen und die herrliche Aussicht genossen haben, wollen wir am nächsten Morgen zu unserer ersten kleinen Bergwanderung aufbrechen. Leider müssen wir feststellen, dass es über Nacht einen Wetterumschwung gegeben hat. Wir stecken auf einmal mitten in den Wolken, dazu regnet es. Nicht gerade unser Wunschwetter, aber aufs Wandern wollen wir dennoch nicht verzichten. Also suchen wir uns eine hübsche kleine Tour heraus, die auch unter diesen Bedingungen zu schaffen sein dürfte. Der Schlossbergsee oberhalb von St. Johann soll unser Ziel sein. Wir werden es nicht bereuen.
Mit dem Auto geht es hinauf bis zur Hochfeldalm und von dort dann zu Fuß über einen schönen, nicht allzu steilen Wanderweg weiter zu dem kleinen Bergsee. Wir wandern dann trotz des Nebels und immer wieder einsetzender Regenschauern noch ein gutes Stück höher bis zur Mittelstation jener Gondelbahn, die von St. Johann bis auf den Harschbichl unterhalb vom Kitzbüheler Horn führt. Dort oben angekommen haben wir Glück. Wenigstens für einen winzig kleinen Moment, leider viel zu kurz für ein Foto, geben die Wolken den Blick frei auf den Schlossbergsee und sogar bis hinunter ins Tal.
Der eigentliche Höhepunkt (nicht in Höhenmetern, sondern in Begeisterung gemessen) bleibt aber die Runde um den See. Hier fühlen wir uns ganz wie der oben erwähnte Wanderer über dem Nebelmeer. Die Berge ringsum bestenfalls zu erahnen, wabernde Nebelschwaden über dem Wasser, außer uns kein Mensch weit und breit, nahezu völlige Stille. Alles wirkt beinahe unwirklich, auf das Wesentliche reduziert. Ganz und gar verzaubert, können wir uns nicht sattsehen, obwohl oder eben gerade weil der Nebel die Schönheit der Natur um uns herum fast vollständig verhüllt.
In Norwegen haben ähnliche Bedingungen in den dortigen Bergen die Menschen an Trolle glauben lassen. Auch wir würden uns jetzt vermutlich kaum darüber wundern, wenn eines dieser kleinen, knollennasigen Wesen zwischen den Wurzeln und Steinen herumhuschte. Aber das ist natürlich Unsinn. Selbstverständlich wissen wir, dass Trolle nur in Skandinavien und keinesfalls in den österreichischen Alpen ihr Unwesen treiben.
Wir bleiben lange, umrunden den See nach unserem Abstieg von der Mittelstation ein weiteres Mal, sind wieder ganz begeistert. Und dann geschieht das Unerwartete: Für vielleicht eine gute halbe Stunde reißt der Nebel tatsächlich auf und wir können die Berge ringsum klar erkennen. Von dem eben noch alles verhüllenden Schleier bleiben nur noch Wolkenfetzen, die sich hier und da an die Bergflanken schmiegen. Auch dies ein Spektakel, dass wir uns auf keinen Fall entgehen lassen wollen.
Erst als die einzelnen Schwaden sich erneut zu geheimnisvollen Schleiern verweben, aus denen schon bald wieder undurchdringlicher Nebel wird, machen wir uns an den Abstieg. Niemals hätten wir uns dieses Wetter für unsere erste Bergtour gewünscht – und dennoch hat es sie zu einem unvergesslichen Erlebnis gemacht. Welch ein Glück wir doch hatten!
Am Nachmittag bummeln wir noch ein wenig durch St. Johann. Sogar die Sonne lässt sich jetzt blicken. Wir freuen uns zwar, sind aber im Stillen ganz froh darüber, dass sie es erst jetzt geschafft hat, die Wolken, den Nebel zu durchbrechen. Uns wäre sonst ein sehr besonderes Erlebnis oben am Schlossbergsee entgangen. Als wir später wieder zu unserem Stellplatz zurückfahren, ringen die untergehende Sonne und jede Mengen Wolken um die Vorherrschaft, was uns am Ende dieses so unvergesslichen Tages auch noch einen großartigen Abendhimmel beschert.
Übrigens: Ich weiß, das Foto wirkt ein wenig, als seien bei der Bearbeitung mit mir die Pferde durchgegangen. Aber ich versichere hoch und heilig: Genau so unwirklich hat der Himmel wirklich ausgesehen. Verzeiht bitte das Wortspiel.
Wir wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass schon der nächste Tag, an dem wir einen Spaziergang um den Walchsee im Kaiserwinkl machen werden, unser letzter in Tirol sein soll. Noch planen wir voller Vorfreude unsere nächsten Wanderungen hier im Gebiet des Wilden Kaisers. Aber wir haben die Rechnung leider ohne die Wettergötter gemacht. Bereits am übernächsten Morgen werden wir uns schweren Herzens dazu entschließen, diesen wunderschönen Stellplatz beinahe fluchtartig zu verlassen. Die Wettervorhersage kündigt riesige Wassermengen an, die hier in den nächsten Tagen niedergehen sollen, zumeist als Regen, zum Teil wohl auch als Schnee.
Kaum zu Hause angekommen erfahren wir, dass in über 40 Orten Österreichs wegen dieser Starkregenereignisse, wie es heute so verniedlichend heißt, Katastrophenalarm ausgelöst worden ist. So sehr wir unsere vorzeitige Abreise auch bedauern, haben wir uns doch richtig entschieden.