Wann ist ein Foto eigentlich fertig? Wenn ich den Auslöser meiner Kamera gedrückt habe? Gehört eine Bearbeitung am Rechner zwingend dazu? Oder sollte ich vielleicht erst dann von einem „richtigen“ Bild sprechen, wenn ich es nach dem Ausdrucken in die Hand nehmen und im Wortsinn begreifen kann? In den alten analogen Zeiten des Negativfilms war die Sache noch einigermaßen klar: Nach dem Auslösen hatte man zwar „die Bilder im Kasten“, wie man damals sagte, aber anschauen ließen sie sich so natürlich nicht. Dazu bedurfte es noch ihrer Entwicklung zum Negativ, von dem anschließend Abzüge angefertigt werden mussten. Dann endlich hielt man das fertige Bild in Händen.
Heute ist das alles längst nicht mehr so eindeutig. Die allermeisten Fotos werden mit einem Handy aufgenommen und weder bearbeitet (entwickelt) noch ausgedruckt (was den früheren Abzügen entspräche). Man reicht einfach zum Betrachten sein Handy herum oder teilt die Bilder in den sozialen Netzwerken.
Andere Fotografen, zu denen auch ich mich zähle, ziehen es vor, ihre Fotos mit einer „richtigen“ Kamera aufzunehmen, anschließend am Rechner zu bearbeiten und die gelungensten zum guten Schluss auf sorgfältig ausgewähltes Papier zu drucken. Hier haben wir ihn dann wieder, unseren guten alten analogen Dreiklang von Belichtung, Entwicklung (jetzt Bildbearbeitung) und Abzug (nun als Ausdruck).
Aber einer dieser drei Schritte wird immer wieder kritisch gesehen: die Bildbearbeitung. Ist es überhaupt in Ordnung, seine Aufnahmen zu bearbeiten? Sind das dann am Ende noch „echte“ Fotos? Nicht ohne Grund gibt es ja inzwischen die eher abfällig gemeinte Bezeichnung eines Bildes als „gephotoshopt“, was gleichbedeutend ist mit absichtlich verfälscht, künstlich aufgepeppt oder gar gezielt manipuliert. Und dann sind da noch jene absolut berechtigten Vorwürfe, all die unzähligen Fotos von per Bildbearbeitung verschlankten, glattgebügelten und dem vermeintlichen Zeitgeschmack entsprechend zurechtgebastelten Filmstars und Models in den Medien seien mitverantwortlich für Essstörungen und andere psychische Erkrankungen vieler Jugendlicher.
Ist Bildbearbeitung also verwerflich und als visuelle Lüge generell abzulehnen? Nein, das wäre selbstverständlich Unsinn. Lasst mich das an einem Beispiel erläutern: Wir alle erinnern uns vermutlich noch an den Fall des Spiegel-Redakteurs Claas Relotius, der zugeben musste, einen Teil seiner Reportagen massiv manipuliert zu haben. In den Medien, auch im Spiegel selbst, sprach man in dem Fall zu Recht von unverzeihlichen Fälschungen. Niemand würde aber den Begriff des Lügners oder Fälschers auf – sagen wir – Paul Maar anwenden, obwohl er doch seine wunderbaren, von allen Kindern heiß geliebten Geschichten über das Sams und Herrn Taschenbier völlig frei erfunden hat.
Bei einer Reportage erwarten wir nun einmal (und sollten eben auch erwarten dürfen), dass die Fakten sorgfältig recherchiert und unverfälscht dargestellt werden. In einem modernen Märchen hingegen darf gerne ein liebenswert-freches Sams mitsamt seinen Wunschpunkten auftauchen. Dort billigen wir dem Autor alle künstlerischen Freiheiten zu, solange er unsere Kinder (und insgeheim auch uns, aber psssst, muss ja keiner wissen) gut und spannend unterhält.
Und damit sind wir auch schon beim entscheidenden Punkt: Ich denke, bei Fotos sieht die Sache ganz ähnlich aus. Wenn wir eine Aufnahme als realistische Abbildung der Wirklichkeit anpreisen oder zumindest diesem Eindruck nicht entgegentreten, dann sollte sie auch nicht mehr als technisch unvermeidbar bearbeitet sein. Auf keinen Fall ist es dann in Ordnung, Inhalte hinzuzufügen oder zu entfernen. Hier wäre der Vorwurf der visuellen Lüge absolut berechtigt. Und um es klar zu sagen: Massiv aufgehübschte Fotos von Stars, Models oder Influencer:innen sind in meinen Augen ethisch nicht zu verantworten. Punkt.
Wenn man als Fotograf aber deutlich macht, ob in begleitenden Texten oder durch das Foto selbst, dass man auf eine exakte Wiedergabe der Realität überhaupt nicht abzielt, sondern sie nur als eine Art von Ausgangspunkt für die eigene Kreativität betrachtet, dann gibt es keinen Grund, warum nicht alle künstlerischen Mittel erlaubt sein sollten. Und zu denen gehört selbstverständlich auch die Bildbearbeitung.
Ich sehe mich und meine Art der Fotografie irgendwo zwischen den beiden Extremen. Einerseits strebe ich (mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg) emotionale Bilder an, bei denen ein beträchtliches Maß an künstlerischer Freiheit meiner Ansicht nach erlaubt sein muss. Andererseits betätige ich mich mit meiner Kamera aber nun einmal in erster Linie im Bereich der Naturfotografie, die ja ursprünglich eine Form der Bildreportage war und es zu großen Teilen auch heute noch ist. Genau deshalb fühle ich mich bei aller Freiheit doch auch verpflichtet, meinen Motiven gerecht zu werden, ohne sie in unverantwortlicher Weise zu verfälschen. So manches Mal ist das eine Gratwanderung.
Mein Ziel sind Fotos, die beim Betrachter den Wunsch wecken, die wunderbare Vielfalt der uns umgebenden Natur bewahren zu wollen. Das werde ich nicht erreichen mittels einer allzu nüchternen Bildsprache; nicht mit Fotos, die zwar sachlich korrekt, aber eben auch nahezu emotionslos daherkommen. Doch auch das Gegenteil wäre alles andere als zielführend. Unglaubwürdige, per Bildbearbeitung heillos verkitschte Fotos brächten vermutlich erst recht niemanden dazu, sich für den Schutz der wirklichen, weit weniger idyllischen Natur einzusetzen.
Also strebe ich einen Mittelweg an, einen Kompromiss, von dem ich glaube, dass er meinen Zielen am ehesten gerecht wird. Dabei erlaube ich mir die Freiheit, bei jedem Foto selbst zu entscheiden, ob und auf welche Weise ich es bearbeite. In der Praxis bin ich mit meinen Bildern fast immer nur dann wirklich zufrieden, wenn ich das Gefühl habe, dass mir sowohl die eigentliche Aufnahme vor Ort als auch die anschließende Bearbeitung zu Hause am Rechner recht ordentlich gelungen sind.
Diejenigen unter euch, die das Glaslinsenspiel schon etwas länger besuchen, haben vielleicht bemerkt, dass ihnen einige der Fotos im heutigen Beitrag irgendwie bekannt vorkommen. Oder etwa doch nicht? Falls ihr euch nicht so ganz sicher sein solltet, dann mag es daran liegen, dass ich einen Teil der Bilder, die es hier tatsächlich schon einmal zu sehen gab, neu bearbeitet habe. Einfach nur so zum Spaß – und weil es die eine einzig richtige Version ja ohnehin nicht gibt.