Keine Fotos mehr im Glaslinsenspiel?

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So recht kann ich es selbst kaum glauben, aber dies ist nun sage und schreibe bereits der einhundertste Blogbeitrag hier im Glaslinsenspiel. Eigentlich ein Grund zum Feiern, zumal es mir wirklich immer viel Freude gemacht hat, die Bilder und Texte für jeden der bisherigen 99 Artikel zu erstellen. Und doch ist mir nicht wirklich danach, die Sektkorken knallen zu lassen.

Sicher ist es euch aufgefallen: Der einhundertste Blogbeitrag ist der erste, der ohne ein Foto im Titelbild daherkommt. Stattdessen wirft die heutige Überschrift die Frage auf, ob es hier zukünftig überhaupt noch Fotos geben wird. Die kurze Antwort darauf lautet: Keine Sorge, das Glaslinsenspiel ist und bleibt ein Naturfotoblog. Also gehören Bilder selbstverständlich auch weiterhin dazu.

Die ausführliche Antwort ist allerdings ein klein wenig komplizierter. Gerade heute zu meinem Hundertsten (Blogbeitrag, nicht Geburtstag) darf ich ja vielleicht auf ein wenig Nachsicht eurerseits hoffen. Deshalb möchte ich, anstatt zu feiern, diese Gelegenheit lieber dafür nutzen, auf die recht düsteren Aussichten (nicht nur) der Naturfotografie aufmerksam zu machen – selbst auf die Gefahr hin, dadurch hier zu meinem eigenen schlecht gelaunten Party Crasher zu werden.

O nein, ich will jetzt nicht einstimmen in das aktuell übliche Gejammer, wir Fotografen würden durch künstliche Intelligenz (KI) demnächst überflüssig. Aus jener Ecke wittere ich den Untergang der Naturfotografie nicht. Die KI wird genauso wenig das Ende der Fotografie bedeuten, wie letztere das Ende der Malerei eingeläutet hat. Darüber habe ich übrigens schon einmal einen Blogbeitrag geschrieben. Per Klick unten gelangt ihr, so ihr denn mögt, direkt dorthin.


Worum es wirklich geht

Bei einem Naturfotoblog wie dem Glaslinsenspiel liegt es ja auf der Hand, sich zuerst einmal Sorgen wegen der mehr als unsicheren Zukunft der Naturfotografie zu machen. Die steht hier aber, so wichtig sie mir auch sein mag, nur symbolisch für etwas, das sehr viel bedeutender ist als alle Fotos dieser Welt: Es geht um um die leider mehr als düstere Zukunft der Natur selbst.

„Wollen wir tatsächlich künftige Generationen in eine Welt tödlicher Dürren, überfluteter Küstenstädte und schwindender biologischer Vielfalt entlassen?“

Kofi Annan, ehemaliger UN-Generalsekretär

Wenn wir jetzt nicht energisch mit allen politischen, wissenschaftlichen, technischen, aber auch jedem Einzelnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegensteuern, dann wird schon sehr bald nicht mehr viel Natur übrig bleiben, die abzulichten sich lohnte. Ich weiß, das hört niemand gerne. Auch ich nicht. Aber man muss schon ein besonders naiver Optimist oder ein komplett unbelehrbarer Ignorant sein, um seine Augen davor verschließen zu können, dass die Natur, wenn wir so weitermachen, schon in naher Zukunft vor die Menschen (die Hunde können ja nichts dafür) gehen wird.

Homo sapiens?

Ein zynisches Bonmot besagt, der Mensch sei nur der Übergang vom Affen zum Homo sapiens. Wenn man betrachtet, welche Nebenwirkungen unser menschliches Handeln auf unsere Mitwelt – und somit auf unsere eigene Lebensgrundlage – hat, dann möchte man dem sofort zustimmen. Von „sapiens“, also von „vernünftig, verstehend, weise“ ist da wenig zu erkennen. Schlaglichtartig hier ein paar Beispiele:

  • 30 Prozent aller Fischereigebiete (und damit 90 Prozent der Bestände) werden über ihre biologische Tragfähigkeit hinaus befischt.
  • Weltweit geht pro Minute (!!!) eine Waldfläche von 27 Fußballfeldern verloren.
  • Immer mehr Süßwasserspeicher auf der ganzen Welt werden schneller entleert als sie sich wieder auffüllen.
  • Das Gleichgewicht nahezu aller Ökosysteme wird durch den von uns Menschen verursachten Klimawandel erheblich beeinträchtigt oder zerstört.
  • Riesige Plastikmüllteppiche haben sich auf allen Weltmeeren gebildet; alleine der „Große Pazifische Müllteppich“ ist größer als Deutschland, Frankreich und Spanien zusammen.
  • Die Versauerung der Meere durch CO2 zerstört die wichtigen Riff-Ökosysteme.
  • Das derzeitige Artensterben ist 100- bis 1000-mal so hoch wie die natürliche Aussterberate. Bleibt es dabei, wird bis zum Jahr 2100 die Hälfte aller höheren Lebewesen ausgestorben sein.

Die Sache mit dem Ast

Niemand mit auch nur einem Fünkchen Verstand kann noch ernsthaft an der Tatsache zweifeln, dass wir alle gemeinsam gerade mit beträchtlichem Eifer dabei sind, an dem Ast herumzusägen, auf dem wir sitzen. Selbstverständlich wäre es deshalb mehr als vernünftig, die Sägerei so bald wie nur irgend möglich einzustellen. Die Schwierigkeit scheint dabei allerdings in dem Wörtchen „vernünftig“ zu stecken. Beispiele gefällig?

  • Ist es vernünftig, zum Feiern nach Mallorca oder zum Einkaufen nach London zu fliegen? Oder überhaupt zu fliegen, wenn es nicht absolut unvermeidlich ist?
  • Ist es vernünftig, statt lebendiger Gärten tote Kies- und Schotterwüsten anzulegen?
  • Ist es vernünftig, Freiheit in Kilometer pro Stunde zu messen?
  • Ist es vernünftig, billige Lebensmittel zu kaufen, um sich beeindruckende Autos und Reisen leisten zu können?
  • Ist es vernünftig, dass unsere Landwirte für billigen Diesel demonstrieren und nicht dafür, von einer maßvollen und nachhaltigen Bewirtschaftung ihrer Höfe angemessen leben zu können?
  • Ist es vernünftig, eine Partei zu wählen, die den Klimawandel wider besseres Wissen leugnet (als nur eine Variante ihrer zynischen, menschenverachtenden Politik)?

Diese Liste ließe sich schier endlos fortsetzen. Aber es dürfte wohl auch so schon klar geworden sein, warum ich bezweifle, dass es von Erfolg gekrönt sein wird, an unsere Vernunft zu appellieren. Wir sind schon als Individuen ziemlich oft unvernünftig (ich zumindest bin es), als Gruppe erst recht. Kann man da auf eine weltweit abgestimmte Zusammenarbeit hoffen, ohne die wir eine Wende zur Nachhaltigkeit nicht erreichen werden?

Wohl kaum. Wir sitzen viel lieber fröhlich pfeifend auf unserem Ast und sägen munter weiter. Warum auch nicht? Haben wir uns denn nicht genau damit unseren hübschen, kleinen Wohlstand ersägt (zumindest wir in den privilegierten Teilen der Welt)? Und ist bisher nicht immer alles am Ende doch gut ausgegangen (zumindest hier bei uns in den privilegierten … ihr wisst schon)? Außerdem hat Schwarzmalerei ja wohl noch nie gutgetan, oder? Na also!

Und überhaupt haben wir hier auf unserem Ast erst einmal wichtigere Fragen zu klären: Wer darf vorne sitzen und den Takt der Säge bestimmen? Könnten wir das Sägen nicht effizienter gestalten? Wie kommunizieren wir die große wirtschaftliche Bedeutung des Weitersägens? Mit welchen Argumenten können wir die lästigen Säge-Kritiker mundtot oder wenigstens unglaubwürdig machen?

Wo aber bleibt das Positive?

Nach all diesen negativen Gedanken werdet ihr jetzt die Wendung hin zum Positiven erwarten. So gehört sich das; so ist es üblich. Man lässt seine Leser nicht am Ende mit leeren Händen dastehen. Es tut mir leid, dass ich euch enttäuschen muss, aber genau wie Erich Kästner 1930 in Vorahnung einer ganz anderen Apokalypse, kann auch ich auf die Frage, wo denn das Positive bleibt, nur antworten:

Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.

Mir ist schon klar, dass ihr nicht hier ins Glaslinsenspiel kommt, um euch die Laune von mir vermiesen zu lassen. Ich verspreche auch, so etwas allerfrühestens nach weiteren einhundert Blogbeiträgen noch einmal zu wagen. Aber mein ganzer Frust darüber, dass wir Menschen uns selbst und so ganz nebenbei viele weitere Arten sehenden Auges in die Katastrophe reiten, musste einfach mal raus. Ich wäre sonst geplatzt, und das kann keiner wollen, glaubt mir.

Es fällt mir eben nicht immer so ganz leicht, die Vielfalt und Schönheit unserer Natur in nett anzuschauenden Bildern einzufangen (oder dies zumindest zu versuchen), wenn ich dabei den Gedanken nicht aus dem Kopf bekomme, dass solche Fotos schon in naher Zukunft nicht mehr möglich sein werden. In gewisser Weise als Vorgeschmack darauf erschien es mir passend, heute einmal konsequent auf Bilder zu verzichten.

Die Verantwortung liegt bei uns

Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.

Philosoph Hans Jonas: „Prinzip Verantwortung“, 1979

Noch gibt es vielleicht eine kleine Chance, den immensen Schaden, den wir der Natur und damit auch uns und vor allem unseren Kindern derzeit zufügen, zumindest auf ein halbwegs erträgliches Maß zu begrenzen. Lasst uns alles dafür tun – jetzt! Lasst uns im Jonas’schen Sinn Verantwortung übernehmen! Wenn jede Besucherin und wenn jeder Besucher des Glaslinsenspiels, wenn also wir alle versuchten, dieser Verantwortung möglichst gerecht zu werden, und wenn jeder von uns ein oder zwei weitere Menschen überzeugen könnte mitzumachen, und wenn die dann ihrerseits wieder… Man wird ja wohl noch träumen dürfen.

Viel Hoffnung habe ich nicht, das muss ich zugeben. Und dennoch: Mein Leben lang galt ich zu Recht als Optimist. Vielleicht verspüre ich deshalb irgendwo tief in meinem Inneren noch einen winzig kleinen Rest von Zuversicht.

Es gibt da einen Ausdruck, der, obwohl ganz anders gemeint, meinen gegenwärtigen Gemütszustand recht gut beschreibt: hoffnungslos optimistisch.

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