Nein, beim Titelbild des heutigen Blogbeitrags handelt es sich nicht um ein Versehen. Das Foto ist absichtlich unscharf. Was das soll? Nun, bei manchen nimmt mit zunehmendem Alter die Weisheit zu, bei anderen wie mir eher die Aufsässigkeit. Ich sehe einfach nicht ein, warum ich mich stets an die Regeln halten sollte, zumindest an die ja ohnehin nur ungeschriebenen der Fotografie. Nicht ohne Grund heißt dieser Blog schließlich „glaslinsenspiel“ mit Betonung auf „Spiel“. Manchmal schlägt eben auch bei mir das sprichwörtliche Kind im Mann durch, und dann probiere ich nach Herzenslust aus, was sich mit einer Kamera und den dazugehörigen Linsen jenseits des Üblichen so alles anstellen lässt.
Es geht mir dabei weder um Kreativität noch um die Neuerfindung der Fotografie. Schon gar nicht bilde ich mir ein, diese Fotos seien mein unverzichtbarer Beitrag zur Welt der Kunst. Hier steht einzig und allein der Spaß im Vordergrund. Ob es sich dabei noch um Naturfotografie handelt? Ich denke schon. Schließlich bilden die Bilder ja sehr wohl ein Stück Natur ab, nur eben auf, zugegeben, recht ungewöhnliche Art und Weise. Mancher wird das aber vermutlich anders sehen. Zum Glück müssen wir ja nicht alle einer Meinung sein, schon gar nicht, wenn es um Geschmacksfragen geht.
Improvisation statt Perfektion
Moderne Kameras und Objektive bieten alle nur erdenklichen Finessen, um mit ihnen technisch absolut perfekte Fotos aufnehmen zu können: knackscharf von vorne bis hinten, auf den Punkt belichtet, ohne Flares, Verzeichnungen oder andere optische Fehler – alles kein Problem. Welcher Fotograf wüsste diese Qualität nicht zu schätzen? Und dennoch: es geht mir dabei so ähnlich wie mit Musik. So sehr ich oftmals die beeindruckende Perfektion von Studioaufnahmen bewundere, manchmal muss es einfach live sein. Selbst wenn sich dabei vielleicht mal eine kleine technische oder musikalische Schwäche einschleichen mag, mindert das ja keinesfalls den Spaß der Musiker und des Publikums, im Gegenteil. Und was wäre mein geliebter Jazz ohne seine Improvisationen?
Zurück zur Fotografie. Alle Fotos im heutigen Beitrag, übrigens ganz frisch aus der Kamera, haben eines gemeinsam: Im Moment des Auslösens hatte ich praktisch keine Ahnung, was dabei am Ende herauskommt – echte Improvisationen also. Diese Art des Fotografierens fühlt sich ein wenig so an, als würde ich in einem mir bis dahin völlig unbekannten China-Restaurant ohne einen Blick in die Karte die Nummer 52 bestellen. Vermutlich nicht jedermanns Sache, aber mir macht so etwas tatsächlich Spaß – in der Fotografie mehr, beim Chinesen weniger, zumindest wenn sich die 52 als „Sieben Feuer des Drachen – extra scharf“ entpuppt.
ICM – Intentional Camera Movement
So heißt die hier angewandte Methode, die tatsächlich auch bei uns praktisch nur unter diesem englischen Namen bekannt ist. Der Grund dafür dürfte wohl sein, dass die deutsche Übersetzung „Absichtliches Bewegen der Kamera“ bei weitem nicht so hip klingt. Im Grunde geht es darum, seinen Fotos einen verblüffend abstrakten Charakter zu verleihen, indem man im Moment der Aufnahme die Kamera bewegt, also praktisch willentlich verwackelt. Hört sich erst einmal ziemlich verrückt an, kann sich aber als durchaus lohnend erweisen. Einen Versuch ist es in meinen Augen auf jeden Fall wert, zumal die Durchführung wirklich sehr einfach ist. In der Praxis gehe ich dabei folgendermaßen vor:
- Bildstabilisierung abschalten
- Reihenaufnahmen einschalten
- längere Belichtungszeit wählen (evtl. unter Zuhilfenahme eines Graufilters)
- während der Belichtung die Kamera bewegen
- Daumen drücken und hoffen
Die Bildstabilisierung (1) könnte hier nur stören, da sie meiner gewollten Bewegung ja entgegenarbeiten würde. Reihenaufnahmen (2) ermöglichen es mir, während nur einer Bewegung der Kamera gleich mehrere Fotos zu machen, was wiederum die Chancen auf gelungene Bilder erhöht. Eine längere Belichtungszeit (3) ist notwendig, um einen echten Bewegungseffekt zu erzielen, dem man dann auch ansieht, dass es sich nicht nur um ein versehentliches Verwackeln handelt. Die Art der Kamerabewegung (4) ist zusammen mit der gewählten Belichtungszeit entscheidend für den eigentlichen Verwischungseffekt. Vorhersehbar ist das Endergebnis allerdings kaum, weshalb mir nichts anderes übrig bleibt, als mit unterschiedlichen Motiven, Belichtungszeiten und Kamerabewegungen zu experimentieren und die Daumen zu drücken (5).
Da das Ergebnis sehr stark vom Zufall abhängt, mache ich von jedem Motiv stets eine ganze Reihe von Aufnahmen, um später am Rechner die gelungensten auswählen zu können. Außerdem prüfe ich immer mal wieder, ob ich die Belichtungszeit oder meine Kamerabewegungen bei der nächsten Aufnahmeserie anpassen sollte. Probieren geht hier eindeutig über Studieren. Meistens bewege ich die Kamera horizontal, vertikal, kreis- oder wellenförmig. Aber da sind der Phantasie natürlich keinerlei Grenzen gesetzt. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Und erzwingen kann ich hier ohnehin nichts.
Genau das ist es aber auch, was diese Art der Fotografie so reizvoll macht. Wann sonst wird man schon von seinen eigenen Aufnahmen überrascht? Mit dieser Technik kann ich von einem einzigen Motiv praktisch beliebig viele Fotos machen – und keines gleicht dem anderen. Manchmal sind die Ergebnisse einfach nur langweilig, chaotisch oder schlicht unattraktiv. Das gehört bei einer so experimentellen Herangehensweise wohl dazu. Immer wieder finden sich aber auch recht ansprechende Aufnahmen darunter.
Eine alte Fotografenweisheit lautet: „Fotografiere nicht, was du siehst. Fotografiere, was du fühlst.“ Wenn später bei der Betrachtung meiner fotografischen Ausbeute plötzlich ein Bild hervorsticht, das diesem Anspruch ein klein wenig gerecht wird, dann ist das immer ein ganz besonderer, ein nahezu magischer Moment für mich.
Das soll es dann auch schon an Erklärungen gewesen sein. Vielleicht bekommt der eine oder andere ja selbst einmal Lust auf diese Art des spielerischen Umgangs mit der Kamera. Für den Fall muss ich allerdings unbedingt noch eine ganz wichtige Warnung loswerden, denn die Anwendung der hier beschriebenen ICM-Methode im öffentlichen Raum birgt ein erhebliches und kaum zu verhinderndes Risiko in sich:
Jeder Passant, und sei er noch so sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, wird ganz unweigerlich auf diesen, seine Kamera während der Aufnahme schüttelnden Fotografen aufmerksam werden und ihn sofort und ohne jegliches Zögern für einen kompletten Volltrottel halten. Glaubt mir, ich spreche da aus Erfahrung. Man hüte sich also, die ICM-Methode dort auszuprobieren, wo auch nur das geringste Risiko besteht, Bekannten über den Weg zu laufen. Allzu leicht könnte man sonst ins gesellschaftliche Abseits geraten.
Fotografie oder Spinnerei, was meint Ihr? Lasst es mich gerne in den Kommentaren wissen. Aber bitte seid ein wenig rücksichtsvoll mit mir. Ich bin schließlich nur ein ganz normaler, also ziemlich wehleidiger Mann.